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Erbe/Erde

Abschied vom Außen revisited – Erbe/Erde
Eine anmaßende Erörterung.
Freiburg am Sa, 06.11.2021, 11–22 Uhr

„Dank der Pflanzen wird die Sonne zur Haut der Erde.“
Emanuele Coccia
Unter der Überschrift Erbe/Erde geht es im Kunstverein Freiburg um Hinterlassenschaften, Eingebundenheiten und den Begriff der Sorge. Dabei sind wir vom ersten Moment unserer Existenz mitten drin, umgeben von Fruchtwasser, in einem Erbe und einer Erde ohne Außen.

Das Erbe der Moderne sind Hochseecontainer, künstliche Hüften und die Sozialversicherung. Aber auch Treibhausgase, Auschwitz und Plutonium. Das eine gibt es nicht ohne das andere.

Die Wurzeln, aus denen heraus wir leben, sind vielschichtig: die Mutterstimme, die Gerüche und Geräusche aus dem Elternhaus, Gene, Umwelten, Traditionen. Jedes Lebewesen ist ein ganzer Planet, der eine Vielzahl von Prägungen und anderen Lebewesen in sich trägt. Und zugleich über seinen Stoffwechsel fortlaufend sich und seine Umwelt verändert. Ohne Abhängigkeit, Symbiosen, gegenseitige Einflußnahme und Symbiogenese kein Leben. Kein Organismus ohne Sonne, Luft, und Parasiten. Immer bevölkert uns ein Erbe: Besiedelung und Inbesitznahme überall. Es gibt keinen Ort, an dem keine Kolonisierungen stattfinden, verhandelt werden, auch enden und abgelöst werden. Immer leben wir durch ein Erbe und geben ein anderes weiter. Immer beinhaltet dies auch eine Konfrontation mit dem Fremden, dem Dunklen in uns.

Ist unsere Erde ein Jardin Glocal, ein lokaler und globaler Garten, welchen wir neu entdecken und gestalten wollen und können? Neben der Frage nach dem Raum, tritt die Frage nach der Zeit: welches Erbe, welche Erde ernährt uns? Aus was schöpfen wir und was bestimmt uns? Und: Welches Erbe, welche Erde wollen wir hinterlassen?

Eingebettet in Sound- und Videoinstallationen beginnt der Tag mit einer Matinee zum Erbe des kürzlich verstorbenen Philosophen Jean-Luc Nancy. Das Abendprogramm gliedert sich in die beiden Kapitel Jardin Glocal und Heart of Darkness.

Programm Erbe/Erde

Als Auftakt läuft der zehnminütige Film Vers Nancy von Claire Denis. Mit Passagen aus dem Text Der Eindringling, in dem sich Nancy mit seiner eigenen Herztransplantation auseinandersetzt, sprechen wir über das Fremde – in und außerhalb von uns.

Jardin Glocal – nach Indien und Ägypten landen wir mit unserer Suchbewegung nach dem Terrestrischen am Oberrhein. 500 Jahre nach dem Sturz des Dürer-Meteoriten steigt von dort ein Strato‐
sphärenballon ins All. Eine Space Odyssee als medienethnografischer Streifzug.

Eine Raumsonde wird mit Kameras, Mikrofonen, Sensoren und einem Stück Moos ausgestattet. Startpunkt ist ein Critical Zone Observatory auf einem Gipfel der Vogesen. Das Flugob‐ jekt – Engel, Virus und Parasit in einem – wird mit Nilwasser getauft steigt mit einer Geschwindigkeit von 8m/sec in die Stratosphäre. Verglichen mit den Ozeanen, den Landmassen und den Flüssen ist die Atmosphäre eine sehr launenhafte Variable des Klimas, die den Kautschukballon bedingten treibt.

Visuell sucht der mehrstündige Irrflug eine raumzeitliche Emanzipation der Unterscheidung von Innen und Außen, hin zu einer schöpferischen Kartographie der Critical Zone. Er ist in diesem Sinne eine Par-Zelle mit einer volatilen, semipermeablen Membran, die das Selbstverständnis unserer medialen Repräsentationen und die Bilder unserer videotechnischen Apparaturen in Frage stellt. Der Ballon platzt am oberen Rand der kritischen Zone in 36km Höhe fällt engelhaft bei der Burg Hohenzollern ins Auge des Betrachters.

Genau ein Jahr später wird an der Tag- und Nachtgleiche mit Music on a Long Thin Wire das keltische Belchensystem am Oberrhein reaktiviert. Zu Sonnenaufgang um 7:13 Uhr wird auf dem Gipfel des Grand Ballon ein 8m langer Klavierdraht mit Magneten in Schwingungen versetzt. Aufsteigende Nebelschwaden aus den Tälern und elektronische Sounds hüllen die naheliegende Radarstation in polyphones Rauschen.

Heart of Darkness
„Kokonhaftes findet sich überall dort, wo sich ein Lebewesen mit sich selbst, mit allen anderen, mit dem Planeten ins Verhältnis setzt. Alles Ich ist ein Kokon.“
Emanuele Coccia

In den mannigfaltigen Gehäusen dieser Erde finden fortlaufend Metamorphosen statt, die man auch als Vererbungsprozesse verstehen kann. Von Außen betrachtet verändert sich bei jeder Metamorphose die Gestalt, während sich im Inneren eine neue Wesenshaftigkeit entfaltet. Jede Metamorphose, jedes Schlüpfen ist ein Verschwinden des Außen. In den Kokoninsierungen finden eine Umwandlungen statt, die dem Betrachter gespenstisch verborgen bleiben.

Mit lüderitzcargo startet vor 25 Jahren eine Suchbewegung nach dem Terrestrischen in Namibia. Ein Hochseecontainer wurde 1996 zum Kino transformiert, dem als ortloses Raumvolumen etwas Geisterhaftes innewohnt. Wie auch die kleinen weißen Pappcontainern der Universität Freiburg, in denen über Jahrzehnte 14 Menschenschädel aus Deutsch-Südwest verborgen lagen – im Kellerraum des KG II zwischen Aula und Mensa.

Geister der Vergangenheit flimmern also nicht nur in der Wüste. Noch immer lebt Europa vom Erbe des Kolonialismus und vom Erbe der Erde, von den Ghost Acreages, den unsichtbaren Gegenden, die unserem Leben und Wirtschaften als Nahrung dienen. Mit diesem Gepäck startet 2022 eine neue Suchbewegung vom Oberrhein nach Afrika. Wir laden ein zur Gründung einer Expeditionsgesellschaft am 19.11.2021 im Büro für Terrestrisches Reisen auf Gutleutmatten/Freiburg.

Anmeldung unter kongo@deglobalize.com
Künstlerische Leitung: Daniel Fetzner
Moderation: Astrid Wegner
Installation: Music for Thin Wire
Video: lüderitzcargo/fuchsfurz
Erbe/Erde ist eine Produktion des Labors für Medienökologie der Hochschule Offenburg und der künstlerischen Forschungsgruppe mbody e.V.


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