Begriff von Bruno Latour. Die Moderne ist von Prozessen der Dekontextualisierung, Globalisierung, Expansion und tendenziell schrankenloser Handhabbarmachung geprägt. Im Zeitalter des ->Anthropozän kommt diese Tendenz an ihre Grenzen (ein Ende?): die BewohnerInnen der Erde sehen sich komplexen Bedrohungen ausgesetzt, deren Facetten „Migrationen, Explosion der Ungleichheiten und Neues Klimaregime“ (TM18) sind. Der Vektor, der Modernisierung und Emanzipation definiert, zeichnet für Latour eine Entwicklungslinie von einem Pol des Lokalen hin zu einem Pol des Globalen sowie das Spannungsfeld, den Zeitpfeil zwischen beiden. Als Gegenentwurf zu diesem Vektor führt Latour einen „dritten Attraktor“ als neuen „Polit-Akteur“ (TM 51) ein: das TERRESTRISCHE (grossgesetzt, um es als eigenen neuen Begriff kenntlich zu machen). Mit diesem Attraktor sucht Latour die binäre Logik von entweder Rückschritt (Attraktor 1 – Lokales) oder aber Fortschritt und Modernisierung (Attraktor 2 – Globales) zu durchbrechen und eine neue Perspektive des Irdischen zu etablieren und auf ihr gründende Wahrnehmungs- und Handlungsoptionen zu instituieren. Sehen wir die Dinge nur von außen tritt ein distanzierendes, an Produktion und Handhabbarkeit und angeblichen “facts” orientiertes Verhalten an die Stelle von “concerns” und “care”. Nach Latour müssen insbesondere die Wissenschaften „anders positioniert werden“ (87) und sich dem Leben zuwenden (-> critical zone, -> Gaia) .Die Prozesse der Erde können nicht mehr von denen der Menschen, des Lebens und seiner Verletzlichkeit getrennt werden. Auf politisch praktischer Ebene schlägt Latour vor, Listen anzufertigen, die die Lebensterrains der einzelnen Lebewesen danach „definieren, wovon ein Erdverbundener für sein Überleben abhängt, und sich dann zu fragen, welche anderen Erdverbundenen von ihm abhängig sind“(110). Diese Listen sollten beinhalten, was wir als Menschen wirklich benötigen und was wir sichern wollen. Dabei müssen allerdings möglichst alle Earthbounds, auch alle anderen Aktanten/Systeme der Erde, von -> Gaia Berücksichtigung finden (-> Parlament der Dinge).
Bruno Latour unterscheidet 4 „Attraktoren“ oder „Existenzweisen“, die zeitgenössisches Denken und Handeln im Angesicht von Klimawandel, Umweltverschmutzung, Migration und des Kampfes um Ressourcen heute leiten. Globalisierung und Modernisierung (1) orientieren sich an Mustern von Distanzierung und Handhabe, von Produktion und Profit. Darauf reagieren in der Gegenwart insbesondere 2 Gegenbewegungen: diejenige hin zum Lokalen (2) und einem Rückzug zu Nationalstaaten und regionaler Abschottung (Brexit, America first) und diejenige hin zum Aussererdingen (3) (den Planeten zu fliehen und z.B. den Mars zu besiedeln wie bei E. Musk). Die Fähigkeit, angemessen und verletzungssensibel mit der Erde und ihren Materialien und Lebewesen in Kontakt zu kommen, zeichnet hingegen vor Allem den 4. Attraktor, das Terrestrische aus. Ihm geht es um ein Verbunden-Sein mit der Erde, um einen ver-antwortlichen Umgang mit allem/allen „Erdverbundenen“ statt um Dekontextualisierung und Gleichgültigkeit. Wir sind alle von ein-ander abhängig und leben aus dieser und durch diese Abhängigkeit heraus.
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