Haraway kritisiert den Begriff des -> Anthropozäns als noch zu anthropozentrisch. Sie sucht über den Menschen hinausgehende „andere Aktionsformen und andere Geschichten des Trostes, der Inspiration, der Wirksamkeit“ (UB 72). Solch andere Geschichten entwirft Haraway mit Methoden des “SF”, die für Science fiction, String figures oder aber Spekulativen Feminismus stehen. Diese suchen vor allem die Verflochtenheit jeder Art und jedes Individuums mit seiner Mitwelt zu erfassen. Hat sich in der vom Individualismus geprägten westlichen Moderne das Subjekt in seinem Selbstverständnis weitestgehend von Allem emanzipiert hin zu einem unabhängigen, autarken und autonomen Akteur, stellt Haraway dem ein arten- und subjektübergreifendes Denken/Handeln entgegen: „Keine Art handelt allein, nicht einmal unsere eigene, arrogante, die auf Basis sogenannter moderner, westlicher Skripte so tut, als würde sie aus artigen Individuen bestehen.“(UB 137).
Mit dem Begriff Sympoiesis/sympoietisch bezieht sich Haraway auf den in der Soziologie von Niklas Luhmann eingeführten (ebenfalls aus der Biologie übernommenen) Begriff der Autopoiesis, wonach in der Organisation sozialer Systeme diese sich selbst produzieren und reproduzieren. Autopoietische Systeme sind geschlossen. Dem setzt Haraway mit dem Konzept der Sympoiesis ein „Mit-Werden” entgegen: „komplexe, dynamische, responsive, situierte,historisch spezifische Systeme“ (UB 85). In dem Aufeinander-Bezogensein der Sympoesis gründet auch Haraways Konzept der Responsabilität, denn: „Im Mit-Werden befähigen PartnerInnen einander.“ (UB 23). Das Kultivieren von Respons-abilität/ Response-Ability bedeutet die Fähigkeit, Abweichungen, Änderungen, Varianten, sympoetische Ko-evolutionen zu entdecken, zuzulassen, einzugehen und zu erfinden.
Evolution zielt bei Haraway auf etwas, das bei Deleuze/Guattari ”Involution” heisst: eine Form der Evolution „durch transversale Kommunikationsformen zwischen heterogenen Populationen…“, in der „…Geschöpfe völlig unterschiedlicher Entwicklungsstufen und Tier- oder Pflanzenreiche zusammenkommen, ohne daß irgendeine Abstammung vorliegt“ (TP 325f.) Haraway führt hier ihr bereits 1984 entwickeltes Konzept des/der Cyborg weiter, worunter sie nicht wie im weit verbreiteten Gebrauch nur Mensch-Maschinen-Hybride versteht, sondern auch Mischwesen zwischen Menschen und anderen Tieren. Nur wenn wir – die Menschen – uns „verwandt machen“ („Make kin!“ (UB 140)) mit anderen Arten, kann es „artenübergreifende ökologische Gerechtigkeit geben“. Und nur dann können die Menschen, so ließe sich die Theorie Haraways zuspitzen, das Anthropozän überleben. Es gibt kein Aussen der Symbiogenesen.
Haraway’s Attraktor ist nicht der Mensch, oder ein Post-humanismus, sondern der Humus, der Compost, die Erde. Während Anthropozän und Capitalozän die Bedingungen allen Lebens auf Erden in frage zu stellen beginnen, sucht sie nach Formen guten Lebens, das sie “ongoingness” nennt. Ohne Trauern/Klagen über die Verluste (Hunger, Artensterben, Umweltverschmutzung u.a.m.) ist für sie eine Neuorientierung nicht zu haben. Viele Arten/Kritters sind in Gefahr, viele sind auf der Flucht, nicht nur die menschlichen Flüchtlinge, viele von Auslöschung bedroht. “Right now the earth is full of refugees, human and not, without refuge”.
Ihr Neologismus Chthuluzän, der auf die Erdverbundenheit (chtonisch) und den Moment des Jetzt (kainos) verweist, versucht die Aufmerksamkeit auf das märchenhaft rhizomatische und zugleich prekär-kritische Über/Leben der Erdlinge (Dinge und Lebewesen) und deren vielfältigen lebensbezogenen und narrativen Netze und Beziehungsfäden zu lenken. Es gilt, deren Ressourcen zu nutzen und “gegen” Anthropozän und Kapitalozän in Stellung zu bringen.Dabei zählen alle Arten von Existenzweisen: praktische und theoretische, institutionelle und Geschichten: “it matters which figures figure figures, which system systematize systems”.
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